Es gibt drei große Abkopplungen vom Buddhismus. Den kleinen und den großen Wagen sowie den tantrischen Buddhismus. Diesen und allen Unterformen liegen keine eigentlichen Dogmen wie im christlichen Sinne vor – und es gibt nur wenige Thesen, die von allen Anhängern gleichermaßen als wahr anerkannt würden. Diese Vielschichtigkeit des Buddhismus macht es eigentlich unmöglich, eine einheitliche, allen Buddhismen zugrunde liegende Lehre herauszustellen; sie bliebe ein künstliches Konstrukt. Also ist die einzige theoretische Grundlage, bei der man annähernd von einer Einstimmigkeit unter den Buddhisten sprechen kann, die der vier edlen Weisheiten.
Bei der ersten Wahrheit geht es um die unerträgliche Leichtigkeit des Seins oder besser gesagt um die Abwesenheit des Seins: Alles ist unbeständig, es gibt kein dauerhaftes Ich. Das, was man als „Ich“ bezeichnet, ist nichts als ein leerer Begriff, mit dem eine Reihe von psychosomatischen Zuständen zu beschreiben versucht wird. Alle Dinge, denen wir in der Welt begegnen, sind schließlich auch die Ursache für neues Entstehen. Indem alles einem Werden und Vergehen unterworfen ist, gibt es auch kein stabiles Ich. Das, was einem von seinem vorigen Ich in das nächste Leben weiterfolgt, nennt man Karma.
Die zweite Wahrheit enthüllt den Ursprung des Leidens, nämlich den Durst oder die Begierde. Alle Formen der Begierde ketten uns an den Kreislauf der Wiedergeburten, ob es sich nun um das sinnliche Verlangen, um das Verlangen weiterzuleben oder um das Verlangen, seinem Leben ein Ende zu bereiten, handelt. Dies verweist auf das, was Buddhisten als das „ursächliche Entstehen“ aller Dinge bezeichnen.
Bei der dritten Wahrheit wird verkündet, dass das Leiden ein Ende haben kann, das Nirwana, das sich erreichen lässt, indem man alle Begierde in sich abtötet. Der Zustand, den man so erreicht und der nicht in Worte gefasst werden kann, steht am Ende des Kreislaufs der Wiedergeburten. Doch kann er nicht einfach als Aufhebung des Seins verstanden werden, sondern ist vielmehr der Zustand vollkommener Ruhe. Das Nirwana kann in diesem Leben erreicht werden, doch erst an dessen natürlichem Ende tritt man in das vollständige Nirwana ein – anders gesagt dem Nichts. Keine Wiedergeburt mehr.
In der vierten Wahrheit befindet sich die eigentliche Soteriologie der Erlösungslehre des Buddhismus. Der achtfache Pfad, aus dem sie sich zusammensetzt, umfasst die verschiedenen religiösen Praktiken, die oft in drei Kategorien eingeteilt werden: Moral, Meditation und Weisheit. Die Begierde, Ursache der Wiedergeburten und des daraus entstehenden Leidens, entspringt ihrerseits der Unwissenheit über die wahre Natur der Dinge. Die drei grundlegenden Leidenschaften Verlangen, Hass und Verblendung fessen uns an das Samsara, den Kreislauf der Wiedergeburten, indem sie uns dazu bringen zu handeln.
Im Buddhismus sind Ursache und Wirkung untrennbar miteinander verbunden und dieses Gesetz der Kausalität oder der Vergeltung bezeichnet man im Allgemeinen als Karma. Es handelt sich nicht im eigentlichen Sinne um eine bewusste Vergeltung, sondern um einen fast automatisch ablaufenden Vorgang. Es gibt drei Arten des Karma: das des Körpers, das des Wortes und das des Geistes. Die Theorie der karmischen Vergeltung wird oft als ein Herausreifen der Taten beschrieben.
Vergleichen wir die Tat mit einer Pflanze, die Früchte trägt. Die Früchte reifen allmählich heran und fallen am Ende mit einem Mal zu Boden. Sie können süß oder sauer sein und ihr Reifen kann länger als ein einziges Leben in Anspruch nehmen – daher die Notwendigkeit der Wiedergeburt.
Damit eine Tat Früchte trägt, damit sie Wirkung zeigt, muss sie bewusst geschehen. Ein bewusstes Wollen ist daher wesentlich und wenn es vorhanden ist, kann die Wirkung selbst dann eintreten, wenn die Tat nicht zu Ende gebracht worden ist. Im Gegenzug wird eine unbewusst ausgeführte Tat keine Früchte tragen, sie wird keine Vergeltung nach sich ziehen.
In der buddhistischen Moral zählt also weniger die Tat als vielmehr die Absicht. Absicht und Tat prägen den Geist über den Tod hinaus und es sind diese karmischen Prägungen, die eine Wiedergeburt nach sich ziehen. Wenn eine Tat einmal vollzogen ist, dann kann nichts mehr ihre Wirkung ändern. Alles Handeln ist also ausschließlich personenbezogen, niemand als der Handelnde selbst kann davon profitieren oder darunter leiden. Der Buddhismus erschafft eine neue Art von Individuum, eines das moralisch für seine Handlungen verantwortlich ist und dabei paradoxerweise gemäß der ersten Wahrheit nicht an die Existenz seines Ichs glauben kann.
Die Welt, in der wir leben, unsere Umgebung und wir selbst werden ebenfalls durch unser Karma geprägt, durch das, was wir in der Vergangenheit getan haben. Zwischen unserem vergangenen Leben, unserem gegenwärtigen Leben und unseren zukünftigen Leben besteht ein Kausalzusammenhang. In der Regel wird dieser Zusammenhang als Kette beschrieben, welche sich aus zwölf Gliedern zusammensetzt und deren Ursprung die Unwissenheit ist. Von dieser Kausalverkettung leiten sich nacheinander die psychische Konstitution, das Bewusstsein, Name und Körper, die sechs Sinne, das Berührungsempfinden, die sinnliche Empfindung, der Durst – vor allem die sexuelle Begierde, die Verbundenheit mit dem Ich, die Existenz, die Geburt/Wiedergeburt, das Alter und der Tod ab. Diese zwölf Kettenglieder beschreiben eigentlich die Entwicklung der fünf Gruppen, die den Menschen ausmachen: Körper, Empfindung, Wahrnehmung, Geistesregungen und Bewusstsein – und das über drei Existenzen hinweg. Die ersten beiden Glieder stehen für die vergangenen Existenzen, die folgenden sieben für das gegenwärtige Leben und die letzten drei für das zukünftige Leben. Die Reihenfolge ist allerdings umkehrbar: Während die gerade beschriebene Abfolge die normale Entwicklung einer Existenz wiedergibt, so steht deren Umkehrung für die Rückkehr zum Ursprung – die, indem sie auf die Ursachen zurückgreift, es ermöglicht, die Wirkung zu unterdrücken und dem Kreislauf ein Ende zu setzen.
Neben diesem in hohem Maße psychologischen Schema des ursächlichen Entstehens steht ein zweites, das eher kosmisch und mythologisch geprägt ist. Es handelt sich um die Vorstellung von den sechs Reichen, die uns nach dem gegenwärtigen Leben erwarten können: die Reiche der Verdammten, der Tiere, der Geister, der Asura (einer Art Titanen), der Menschen und schließlich das Reich der himmlischen Wesen.
Auch wenn der ehemalige Mensch im Prinzip auch dann noch ein menschliches Wesen bleibt, wenn er in einer dämonischen, tierischen oder göttlichen Form wiedergeboren wird, so beinhaltet doch nur die menschliche Form selbst mit ihrer Mischung aus Freude und Leid eine gewisse Möglichkeit, den Teufelskreis der Wiedergeburten zu durchbrechen. Nur die menschliche Existenz erlaubt es, das Karma zu verändern. Im Laufe der anderen Existenzen wird einem hingegen nur das vergangene Karma vergolten.